Kinderstimmrecht: Ist Deutschland schneller als Österreich?
Bundestags-Antrag für ein „Wahlrecht ab der Geburt“ - Unterstützer in allen vier Parteien - Auch ein Thema beim Österreich-Konvent?
Wien/Berlin, 11.8.03
Was Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüssel vor kurzem als Idee in den Raum stellte, beschäftigt in Deutschland jetzt den Deutschen Bundestag: das „Kinderstimm-recht“, das auch den minderjährigen Staatsbürgern - vertreten durch ihre Eltern - das Wahlrecht sichern soll.
Abgeordnete aller vier Parteien haben im Bundestag einen Antrag auf ein „Wahlrecht ab der Geburt“ gestellt. Noch im Sommer soll über die Initiative im Bundestag beraten werden.
Auch Österreichs Bundeskanzler Schüssel hatte vor wenigen Wochen in einem Vortrag beim Kongresses zur Wiener Stadtmission beklagt, dass Kinder „nicht einmal über ihre Eltern ein Stimmrecht“ hätten. Hier sollte man nachdenken, ob es nicht Ideen gäbe, dies „zu ändern“, so der Kanzler. Aus dem Katholischen Familienverband kam am Montag die neuerliche Forderung, das Thema Kinderstimmrecht beim Österreich-Konvent für eine neue Bundesverfassung „eingehend zu behandeln“. In der katholischen Kirche wird bei den alle fünf Jahren stattfindenden Pfarrgemeinderatswahlen das Kinderstimmrecht seit langem praktiziert: Jeder Elternteil kann pro Kind eine halbe Stimme abgegeben, Alleinerziehende haben für jedes Kinder eine ganze Stimme. Kinder, die bereits gefirmt sind, können als „mündige Christen“ selbst ihre Stimme abgeben.
Namhafte Politiker als Unterzeichner
Der Antrag im Deutschen Bundestag auf ein „Wahlrecht ab der Geburt“ wird von Vertretern der rot-grünen Koalition ebenso unterstützt wie von Angeordneten der CDU/CSU und der FDP. Zu den 41 Unterzeichnern der überparteilichen Initiative gehören Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) ebenso wie Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne), der CDU-Abgeordneten Rainer Eppelmann oder Hermann Otto Solms von der FDP. Namhafte Befürworter die Initiative sind auch Familienministerin Renate Schmidt (SPD), die keine Abgeordnete des Bundestages ist und deshalb den Antrag selbst nicht unterschreiben konnte, der deutsche Altbundespräsident Roman Herzog (CDU) und der Vizepräsident des Bundesverbandes der Industrie, Hans-Olaf Henkel.
Der Antrag zielt auf ein „Wahlrecht ab Geburt“ ab. Dieses wird von den Eltern bzw. Sorgeberechtigten solange „treuhänderisch“ ausgeübt, bis die Kinder selbst wählen dürfen. Begründet wird der Antrag damit, dass auch Minderjährige zum Volk gehören, von dem in der Demokratie alle Macht ausgehe. Wer Kindern das in der Demokratie unverzichtbare Grundrecht des Wahlrechts „grundsätzlich vorenthält“, stelle nicht nur die Gleichheit der Bürger in Frage. Er leiste auch einer Politik Vorschub, die „zur Verlagerung von Lasten auf die nächste Generation tendiert“. Jeder fünfte Deutsche ist unter 18 Jahren, so dass derzeit 20 Prozent des Bürger nicht wahlberechtigt sind. Ihnen sei dadurch „generell ein Einfluss auf die Ausübung der Staatsgewalt versagt“.
Wähler-Mehrheit gegen die junge Generation?
Durch den Ausschluss der unter 18jährigen vom Wahlrecht befürchten die Antragsteller, dass sich die Tendenz, eine Politik zum Nachteil der jungen Generation zu machen, in Zukunft noch verstärken wird. Junge Familien mit Kindern würden als Wählerpotential immer unbedeutender, während das Gewicht der Rentner-Generation steige. Nach Schätzungen von Bevölkerungs-Experten wird im Jahr 2030 jeder dritte Deutsche 60 Jahre oder älter sein. Diese Entwicklung würde zu einer weiteren „erheblichen Verschlechterung der politischen Interessenvertretung der jungen Generation“ führen. Mit dem Kinderstimmrecht würden die Parteien ihr Handeln deutlicher als bisher auf die jüngeren Wähler ausrichten.
Weiterentwicklung der Demokratie
Im „Wahlrecht ab der Geburt“ sehen die Unterzeichner der Initiative eine Weiterentwicklung der Demokratie. Für Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Bündnis 90/Die Grünen) geht es um die Erweiterung des emanzipatorischen Bürgerbegriffs - mit historischer Vorgeschichte: Im alten Athen seien es die Sklaven gewesen, die nicht als Bürger galten und daher kein Wahlrecht hatten, lange Zeit seien auch die Frauen vom Wahlrecht ausgeschlossen gewesen. Vollmer sieht das Kinderstimmrecht als Gelegenheit, den Bürgerbegriff zu präzisieren: „Sind Kinder keine Bürger dieses Landes?“ Die Initiative für das „Wahlrecht ab der Geburt“ findet in den vier Bundestags-Parteien aber nicht nur ungeteilte Zustimmung. Es gibt auch Kritik an dem Vorschlag: Er verstoße gegen die Regel, dass das Wahlrecht nur „persönlich“ ausgeübt und nicht übertragen werden kann. Außerdem hätten Eltern, die zusätzlich zu ihrer eigenen Stimme auch für die Kinder wählen, ein größeres Gewicht als Singles. Das würde - so die Kritiker - dem Grundsatz widersprechen, dass jeder Wähler nur eine Stimme hat.
Jedem Bürger eine Stimme
Die Befürworter des Kinderstimmrechts setzen diesen Einwänden ihre Argumente entgegen: So sieht der deutsche Verfassungsrechtler Paul Kirchhof keineswegs einen Verstoß gegen die Stimmengleichheit: „Im Gegenteil, jeder Mensch erhält eine Stimme“ - auch die Kinder. Dass die Kinder ihr Stimmrecht nicht selbst ausüben, sondern dabei von ihren Eltern vertreten werden, sehen die Befürworter ebenfalls nicht als Hindernis: „Schon jetzt nehmen Eltern die Rechte ihrer Kinder treuhänderisch wahr. Mir will nicht einleuchten, warum sie dann kein Wahlrecht für ihre Kinder wahrnehmen dürfen so der CDU-Abgeordnete Eppelmann. In vielen Bereichen des öffentlichen und privaten Rechts - so die Befürworter - sei die Stimmrechts-Übertragung möglich, sei es in den Gremien der Hochschulen, im Aktienrecht oder im Vereinsrecht. Die Wahrnehmung der Rechte der Kinder durch die Eltern sei dabei eine „weltweite Selbstverständlichkeit“. Werde etwa ein Kind bei der Geburt verletzt, stünden bei der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen primär seine Rechte auf dem Spiel. In einem Prozess sei dann der Säugling Kläger, vertreten durch seine Eltern.
Vertretung bei Wahlen nichts Neues
Auch bei politischen Wahlen sei in Europa schon jetzt die Vertretung möglich. Die Befürworter des Kinderstimmrechts berufen sich auf alte Demokratien wie Frankreich oder England, die ihren Bürgern auch bei Wahlen eine Vertretung gestatten. Und auch in Deutschland werde das Prinzip der „Höchstpersönlichkeit“ bereits durchbrochen, etwa bei der Briefwahl oder bei der Beauftragung eines Wahlhelfers.
Wien, 11. 8. 2003; f. d. R.: Mag. Andreas Cancura, Geschäftsführer