50 Jahre KFVW - Teil 1 - Die Altpräsidenten: Dr. Walter Nissel (Vorsitzender 1961 – 1966)
Anlässlich des diesjährigen 50 Jahr-Jubiläums des Katholischen Familienverbandes der Erzdiözese Wien (KFVW) bringen wir nun in jeder Ausgabe unserer Mitgliederinformation - und natürlich auch online - einen Beitrag über einen ehemaligen Vorsitzenden des Katholischen Familienverbandes
Die Spannung ist groß vor der Begegnung. Wie wird einer der großen Alten des Familienverbandes den inzwischen auch nicht mehr ganz jungen Chronisten und jetzigen Geschäftsführer empfangen? Immerhin war Primarius Dr. Walter Nissel bereits Vorsitzender des Familienverbandes und Familienwerkes (damals in Personalunion) als der heutige Vorsitzende und sein Geschäftsführer noch nicht einmal geboren waren. Aber kaum ist die Schwelle der schönen Wohnung in der Michaelerstraße überschritten, ist die Aufregung dahin. Blitzschnell wieselt der noch immer drahtige ehemalige Vorsitzende trotz zweier Krücken durch die Wohnung, weist auf die vorbereiteten alten Unterlagen aus seiner Verbandszeit hin, animiert seine Frau, die an den Folgen eines Schlaganfalls leidet, zum gemeinsamen Foto, blättert unruhig in den Akten, versucht sich zu erinnern, antwortet schnell und drängt den Frager zur Eile - weil das Leben kurz und die zu erledigende Aufgabe – nicht zuletzt als begeisterter Philatelist - noch immer groß ist.
Was waren die großen Leistungen? „Die Einführung der Eheseminare gemeinsam mit Kardinal König im Jahr 1961, die Vertretung der Anliegen von Ehe und Familie auf der Diözesansynode und der Aufbau der Familienerholung in Edlitz bei Grimmenstein,“ kommt es blitzartig. Man erkennt den routiniert Vortragenden, der voller Begeisterung von den zahlreichen Abendveranstaltungen berichtet. Damals mussten Brautpaare an drei Abenden zur Ehevorbereitung kommen und je einen Vortrag eines Arztes, eines Vaters und einer Mutter besuchen.. „Die Aufklärung war damals nicht besonders gut.“ Deswegen nahm sich der Mediziner, der auch das Rehabilitationszentrum Hochegg aufbaute, besonders der Aufklärung an. „Familienplanung aber wie?“ lautete der damalige Bestseller, den Nissel gemeinsam mit dem Seelsorger Alois Jäger bei Herold herausbrachte. Auch ich bekomme so ein schönes altes Buch und überreiche im Gegenzug artig den neuen „Ehe-Guide“ des Familienverbandes. „Ah, doch wieder gemeinsam mit dem Familienwerk herausgebracht,“ entfährt es dem Altvorsitzenden von Familienwerk und Familienverband erfreut. Ja, unsere Bürogemeinschaft funktioniert nach wie vor ausgezeichnet. Nur die Schwerpunkte haben sich etwas verlagert. Die Familienpastoral hat das Familienwerk über, die Familienpolitik der Verband, wenngleich die Serviceeinrichtungen wie Familienurlaube und Elternakademien in der Verbandsarbeit natürlich auch nicht zu kurz kommen dürfen und eben auf eine lange Tradition gerade auch unter Walter Nissel zurückblicken können.
Und die Familienpolitik? Da muss Walter Nissel länger nachdenken, aber das auf dem Tisch liegende Redemanuskript aus dem Jahr 1962 hilft weiter: Gefordert wurde damals die Stärkung des Ansehens der Familie in der Öffentlichkeit, die Verankerung der Familie in der Verfassung, die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der kinderreichen Familie, die Stabilisierung des Lohn- und Preisgefüges unter der Regierung Gorbach, die Verbesserung der Kinder- und Mütterbeihilfen, der Ausbau des Familienlastenausgleichs und der Mütterbeihilfen, die Regelung der Mieten sowie Gesetze gegen den Ablösewucher, die Verbesserung der Wohnungsbeihilfe und der öffentlichen Wohnbauförderung. Programmatisch und auch heute noch immer aktuell die Forderung nach „voller Anerkennung des Berufes der Hausfrau“ und die Forderung nach „Neuregelung der Lohn- und Einkommensteuer“. Walter Nissel 1962: „Es entspricht der sozialen Gerechtigkeit, bei gleicher Leistung ein gleicher Lebensstandard!“ In Verhandlungen mit Finanzminister Klaus wird darum gerungen, „die von Jahr zu Jahr zunehmende Steuerungerechtigkeit gegenüber der Familie zu beseitigen“. Der Familienverband fordert daher damals „einen Steuerfreibetrag für die alleinverdienenden Familienerhalter, die stärkere Berücksichtigung der Kinderzahl bei der Lohn- und Einkommensteuer sowie das dauernde Verbleiben der Eltern in der Steuergruppe III“. Diese Anliegen wurden später unter der Regierung Klaus zum Großteil realisiert, das Ringen um eine gerechte Familiensteuerreform blieb bis heute (siehe Beitrag auf Seite 1).
Zum Schluss des Gesprächs darf der Chronist einen Riesensack Akten „für das Verbandsarchiv“ mitnehmen. „Weil ich gemerkt habe, dass ihr aus dieser Zeit nicht mehr sehr viel wisst,“ erklärt Walter Nissel verschmitzt. Wir verabschieden uns als Repräsentanten verschiedener Generationen, die ein gemeinsames Ziel verbindet: die Stärkung der Familie. Danke, Walter Nissel – und mögen noch viele Vorhaben gelingen!
Mag. Andreas Cancura